1. Kein Wintermärchen und etwas Zarathustra

1. Kein Wintermärchen und etwas Zarathustra

Es waren einmal eine Mutter und ein Vater. So beginnen oft Märchen, welche Kindern und aber auch den Vorlesenden einen Mikrokosmos bieten, welcher überschaubar ist.
Als ich, der Schreiber dieser Zeilen, 2008 am Ahlbecker Strand saß und den Sand durch meine Hände rieseln ließ, versuchte ich mich mit einer Frage nach der Unendlichkeit. Klar war, dass die Menge der Sandkörnchen nicht unendlich, also endlich ist. Aber wie viele Sandkörnchen gleichen sich auf ein Atom genau? Gibt es überhaupt zwei identische im endlichen Meer der für mich unzählbaren Körnchen? Angenommen, ein jedes Sandkorn besteht aus weniger Atomen, als es Sandkörner gibt, dann muss es wenigsten ein Körnchen geben, welches identisch mit dem Vergleichskörnchen ist.
In das unendlich große Universum übertragen bedeutet dies, es gibt mindesten eine Antiwelt, eine gleiche Erde wie unseren Planeten mit gleichen Verhältnissen, mit gleichen Verläufen und handelnden wie nicht handelnden Personen. Somit ist einleuchtend, dass in diesem utopischen Roman auch eine politische Wende ablief, die haargenau der Wende auf unserem geografischen Territorium glich. Grafische Einlagen wurden der Erde entnommen, denn fotografische und andere Darstellungen aus der Antiwelt lagen dem Autor nicht vor.

Die nun folgenden Geschichten sind ein Angebot, sich zu identifizieren, sich in andere Rollen zu versetzen und zu lernen, mit deren Argumenten zu arbeiten. Des Lesers emotionale Zentren im Gehirn werden hoffentlich aktiviert und lassen ihn je nach Betroffenheit mit Abstand schmunzeln und Ruhe finden. Es soll ja am Ende gut ausgehen. Der böse Wolf landet im Zoo oder läuft zur Anschauung in Bruderschaften oder über den Markt. Die Gefressenen kommen aus ihrer misslichen Lage wieder heraus oder spielen im Kreistag mit Käthe-Kruse-Puppen.
Neurobiologen verweisen, das sei dazu gesagt, auf die Erzähl- beziehungsweise Lesesituation. Nun also, liebe Leser, lehnt euch gemütlich zurück, kuschelt euch an ihn, an sie oder in die Polster, schaltet vorher die Hör- und Sehgeräte ab und genießt die Tatsache, nicht da draußen zu sein.

Also: Es waren einmal ein Vater und eine Mutter.
Beide erblickten so um das Jahr 1907 das trübe kaiserliche sprich wilhelminische Licht der Welt. Deutschland war ein Kaiserreich. Der Kaiser regierte, ein Unhold, welcher nach heutiger Gepflogenheit, also einhundert Jahre später, einem europäischen Tribunal übergeben worden wäre. Die Anklage enthielte Machtmissbrauch und Völkermord. Wer ihn jetzt noch sehen will, der möge im Oberlandesgericht der Kleinstadt Urkunden aus jener Zeit bewundern. Historische Zeugnisse, welche sicher und hoffentlich nicht ihm zu Ehren dort die Flure zieren. Sicher kann man sich aber nicht sein, denn Spitzenleute der Bürokratie zieren sich gerne mit historischen Bezügen. Blut, Unrecht und Pulverdampf haben ja auf diesen schön und teuer gestalteten Urkunden keine Spuren hinterlassen.

Mutter und Vater überlebten die Rauchfahnen des ersten Weltkrieges um 1914 bis 1917 und die Stürme der nachfolgenden Inflation. In der braunen Periode folgten sie dem Ruf der Erfinder des „Goldenen Mutterkreuzes“ und bekamen in der aufgeführten Reihenfolge noch vor dem Kriegsende 1945 die vier Kinder Brigitte, Peter, Hans und Vera. Jedes Einzelne wurde unter Schmerzen geboren und das ist ja wohl auch heute noch, auch mit Kaiserschnitt, kein Kinderspiel.

Der Vater, ein Apotheker und nun auch noch Hauptmann in der Wehrmacht, befand sich im Krieg und war somit den Lockungen eines weiteren Kreuzes, dem Ritterkreuz, ausgesetzt. Vor seinem Einzug an die Front gab er noch, sehr zum Verwundern der Mutter seiner vier leiblichen Kinder, den Lockungen einer sehr jungen Mitarbeiterin in seiner eigenen Apotheke nach, welche ihm nach dem Zweiten Weltkrieg, nun aber nicht mehr zu Ehren des Führers des Deutschen Reiches, der Krieg war ja wie gesagt vorbei aber der Westen verführerisch, seine weiteren leiblichen Kinder Erich, Anita und Paul gebar.
Das schwerste Kreuz aber sollte der zurückgelassenen Mutter aufgebürdet werden, die gerade mit dem Säugling im Kinderwagen, der großen zehnjährigen Tochter und den zwei Jungen, vier und sechs Jahre alt, zum Ende des Monats Januar 1945 in den kalten, verschneiten Wald in Richtung Ostsee zur Kurischen Nehrung losziehen wollte, denn auf den drei Landseiten stand die russische Armee mit ihrem berechtigten Siegeswillen und ihren Rachegelüsten.In den Jahren zuvor waren die herrlichen Ostseestrände mit Besuchern aus dem Umland oder auch von weiter her bevölkert. Weißer feiner Sandstrand zog sich bis zu den nahe gelegenen Rändern der Mischwälder und vor dieser Idylle lag das leicht brandende Meer wie ein herunter gefallener Himmel, überzogen mit einem hoffnungsvollen lichten blau am Morgen und einer zum Abend hin wirkenden geheimnisvollen Dämmerung.
Wir Kinder spielten und tobten und hatten noch nicht die Reife, uns mit der Deutung der Farben zu beschäftigen. Himmelblau? Abendrot?
Auch dachten wohl nur wenige der sich in Sicherheit wiegenden daran, dass die entfernter liegende Nehrung über Jahrhunderte Fluchtweg für von der Pest oder von Heerscharen Verfolgte war oder werden könnte.

Wären die Flüchtigen auf einen vorüberfahrenden, die Gruppe sehenden und haltenden Eisenbahnzug gestoßen?
Nein, sie sollten nicht auf ihn gestoßen sein.
Wären sie von einer Gräfin mit ihrem Tross aufgelesen worden?
Nein, sie sollten nicht aufgelesen worden sein.
Könnten sie vielleicht ein Schiff über die Kurische Nehrung erreicht haben und gerade erst aufgeatmet schon wieder auf den Meeresgrund bombardiert worden sein?
Nein, auch das sollte nicht sein.

„Düster sollten sie durch leichenfarbene Dämmerung gehen. Nicht nur die Sonne war ihnen untergegangen, sondern auch die Sicherheit zu leben“.

Aber auch das traf nicht zu, denn ein Zahnarzt aus Heiligenbeil, später in Schleswig-Holstein praktizierend, Max Kowallik, kam des Weges nicht daher gelaufen sondern mit einem Sanitätskraftwagen gefahren und lud die vor den Siegersoldaten flüchtenden ein. Die Apotheke, vom Großvater erworben und vom Vater geführt, das Elternhaus, die Heimatstadt- alles entfernte sich in das „Nimmerwiedersehen“, blieb im Heiligenbeiler Kessel, das Gebiet war von der gegnerischen Armee umschlossen und nur zur Ostsee noch offen, zurück.
Siegersoldaten gab es ja da unten, im späteren Deutschland, in Ostpreußen, historisch betrachtet schon reichlich. Neben dem Nachbarland Polen lebten dort um das Jahr 1000 n. d. Ztr. die Prussen in zehn bis zwölf Gauen als Familienverbände, welche die Haupttugenden Freiheitsliebe, Friedensliebe, Gastfreundschaft und tiefe Religiosität pflegten und ihren Reichtum, den Bernstein, die Pferde und die Pelztiere nutzten, bis um 997 n. d. Ztr. die Christianisierung das Land im Auftrag Roms überzog, viel Leid und Unrecht in die Region brachte.
Dafür hat sich aus Rom, aus dem Vatikan, bis heute noch niemand entschuldigt.

So um das vierzehnte und fünfzehnte Jahrhundert n. d. Ztr. waren die kulturellen Werte und Zeugnisse der Prussen verschwunden. Nun herrschte der Ritterorden bald über dreiundneunzig Städte und eintausendvierhundert Dörfer, welche er gegründet hatte. So um 1440 ging der Orden unter, dann folgten zum Beispiel 1515 zwanzig Jahre Krieg.
Aus dem Deutschordenstaat wurde das evangelische Herzogtum Preußen. Wiederum später, nach sieben Jahren Krieg, plünderten die Russen das Land aus. Holz für die Flotte ließ die Wälder veröden, Wild wurde überjagt, zeigte sich nicht mehr. Erst 1762 zog sich die russische Zarin Katharina II. mit ihren Mannen zurück.

Es begann über Jahrhunderte eine Völkerwanderung und der Landstrich blühte wieder auf.

Einwanderer wie preußisch- litauische Bauern, französische Schweitzer, Nassauer, Pfälzer, Magdeburger, Halberstädter, auch Kolonisten aus Süddeutschland, aus dem Raum Baden- Württemberg, dort hielt sich später Händel (nicht der Musiker, sondern der geflohene Mitteldeutsche) auf, folgten dem Ruf Friedrich des Großen und ließen sich nieder. Es sollen fünfzehntausend gewesen sein, welche die Lücken des Handwerks und der Verwaltung füllten. Darunter waren auch Leute mit dem Familiennamen des Verfassers. In Wangen im Allgäu findet man noch häufig Grabsteine mit diesem Namenszug. Sicher waren auch schon Vorboten oder Glücksritter losgezogen, denn ein um 1700 geborener Hanns Kah, verheiratet mit einer Catharina, lebt nun in Friedland in Ostpreußen und steht somit am Anfang der erforschbaren Ahnen, als erster im Stammbaum des Peo, einem der vier Flüchtlingskinder.
War er, der Mann in Friedland, ein im Zuge der Gegenreformation 1731/1732 vertriebener Lutheraner aus dem Erzbistum Salzburg?

Auswanderer aus Ostpreußen, es sollen Einskommadreimillionen gewesen sein, zogen um 1871 und 1910 zurück in das rheinisch- westfälische Industriegebiet und nach Berlin und damit zog der Name Kah evt. auch in Berlin, Frankfurt, Schildau, Erfurt auf. Man hatte in Versailles das Deutsche Reich gegründet.

-Nicht Einwanderer, nicht Auswanderer, nicht Umsiedler waren sie, die Überlebenden des zweiten Weltkrieges, entkommen aus den Kesseln von Pillau und Heiligenbeil, geflohen über das Meer, durch die Wälder, auf kahlen Straßen bei Eis, Schnee und Sturm, hungernd, frierend und sterbend. Im überlebenden Teil des untergegangenen Deutschen Reiches nannte man sie Flüchtlinge.
Auf den Dörfern wurden sie manchmal freundlich und hilfsbereit aufgenommen. Beispiele belegen aber auch immer wieder den durchbrechenden Hang der Menschen, sich am Unglück der anderen zu bereichern und die Mehrheit der uneigennützig hilfsbereiten Hände vergessen zu machen. So haben einige oder auch viele den ehrbaren Beruf des Bauern in Misskredit gebracht, wenn sie, selbst praktizierende Christen, ihre schlechten Futterkartoffeln oder sauer gewordene Milch zum Beispiel in Zangenberg im DDR- Bezirk Halle, in Radefeld bei Leipzig oder in Pötenitz im DDR- Bezirk Rostock nur gegen Wertsachen an die Hungrigen abgaben. Zeugnisse dieser Räubereien finden sich noch heute als Schmuck, Teppiche, Kunst- und Kulturgüter in deren guten Stuben und in den Stuben ihrer Erben. So jedenfalls haben es ihre Nachkommen, damals noch klein und nicht verantwortlich für die Taten ihrer Eltern, im Jahr 1997 erzählt. Diese Tatsachen konnte Peo fünfzig Jahre später als Gast in deren Wohnungen in Augenschein nehmen.
Im neuen Osten Deutschlands zählte man von Amts wegen die Geflohenen und Vertriebenen zynisch zu den „freiwilligen“ Umsiedlern. Auch die, welche aus der Schar der zweihunderttausend Fliehenden aus Zinten stammten und in der Kleinstadt an der Saale, es könnte Naumburg sein, landeten, wurden von der neuen Stadtverwaltung so eingestuft. Aber es kommt nach besser. Den Flüchtlingen wurde am 03. Februar 1945 bestätigt, dass sie vorsorglich umquartiert worden sind und nun für die registrierten Personen am 08. 02. 1945 Urlauberkarten erhalten haben.
Urlaub und dann wieder zurück? Im späteren Ostdeutschland wären solche Gedanken als revanchistisch und damit staatsfeindliche gewertet worden.

Fünfzig Jahre nach der Flucht, also fünfzig Jahre später, kamen Interessenten und baten um Unterlagen aus der Zeit nach der Wende, die neue Zeitrechnung spricht auch vom Jahr 06.n.d.W. Das veranlasste Peo, sich selbst zu fordern und bei aller Freud und allem Leid besinnlich, nachdenklich, amüsiert erkennbare Realität und Fiktion zusammen zu phantasieren. Märchenhaft eben.Den Anstoß gab am 20. 06. 1996 Peos ehemaliger Schüler Marcus, der Sohn einer berühmten Organistin der Stadt an St. Wenzel, welcher Peo Material über Ostpreußen zusandte, verbunden mit herzlichen Grüßen, aus welchen Peo als Verpflichtung entnahm, Fragmente der alten wie neuen Heimat und Wende den Nachkommen zu erhalten. Den zweiten Schubs, einiges aufzuschreiben, bekam er von seiner Tochter Katharina. Die technische Hilfe sagte ihm Sohn Christian zu. Einen weiteren Anstoß gab Roland Lehmann, eine Zufallsbegegnung am Rand der Bebelstraße, ein Praktikant, am 23. Oktober 2010: „Vergangenheit festzuhalten ist ein Gebot der jeweiligen Zeit und Wissen darüber gerät schnell für immer in Vergessenheit“.
Der anonyme Leser, welcher nicht weiß, ob er ein Betroffener ist, gehe einfach davon aus, dass er ja in dieser und nicht in der Antiwelt lebt, aus welcher fabuliert wird. Die Existenz der Antiwelt, kurz nach dem Urknall entstanden, führt heute zu der Frage, wie es möglich ist, dass aus Energie eine Masse einschließlich der Menschheit entstanden ist.

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