3.10.1 Der christliche Werdegang?
Wenn es nach dem Moritzpfarrer Wagner gegangen wäre, hätte Peo den Unwillen des himmlischen Herrschers eigentlich schon 1953 verdient. Hat dieser Lümmel doch einfach in Erwartung des sich verspätenden Pastors vor den Konfirmanden auf dem Harmonium musiziert, besser, die Donauwellen geklimpert!
Die Maulschelle der großen weichen Hand im Vorgriff auf Gott war aber kaum zu spüren. Und wenn schon. Verglichen mit dem, was Josefine Mutzenbacher als Kind unter und auf ihrem Beichtvater erlebte und Kinder heute noch und immer wieder in selbigen Kreisen erleben, war die Hand doch wenigstens erzieherisch wertvoll. Wer kann sich heute, fünfundsechzig Jahre später schon rühmen, in einem Gotteshaus, dessen unterster Südteil des Turmes als das älteste erhaltene Bauwerk der Stadt gilt, per kräftigem Handschlag unter den Augen des schwarzhäutigen Namensgebers, des Afrikaners Mauritius bzw. Moritz, welcher aus einem Glasfenster schaut, gesegnet worden zu sein? Oder muss man sagen: Peo wurde mit diesem Handschlag ausgesegnet und wurde religionslos, fing im Glauben von vorne an? Führte das Spiel auf dem Harmonium zu neuem Glück?
Begann in ihm das Denken in philosophischen Kategorien? Betrachtete er das Sein, die Abläufe im Denken, die Vorgänge im Gehirn nicht mehr als göttlich aufgesetzt sondern als einen gegenwärtigen Zustand der Evolution? Das hieße ja, die unbewiesenen Behauptungen und Dogmen der christlichen Kirchen dienten den Oberhäuptern lediglich als Instrument zum Erhalten der Macht, den daraus entstehenden Möglichkeiten, in großen Limousinen mit Chauffeuren zu den Veranstaltungen zu fahren, mietfrei in Palästen zu wohnen, Delikte als gottgewollt nicht öffentlich werden zu lassen, die Religion so zu missbrauchen, wie die Sklavenhalter die geflochtenen Ochsenziemer?
Nein, nein. Er lernte nach der politischen Wende Christen kennen, die sich als genau so schwache Mitbürger entpuppten, wie die, welche als praktizierende Genossen nur um Karriere, Denunzieren und Vorteilsnahme rangen. Diese alten und neuen Christen bemühten sich sofort, nicht parierende Bürger auszugrenzen. Zu DDR-Zeiten wagte es in den letzten Jahren kaum noch einer, an Peos Kaffeetisch Platz zu nehmen. Dieses Verhalten setzte unter den neuen Machtstrukturen bald wieder ein.
Sagt man nicht „Das Glück des Anfängers“? Hat er also immer wieder neu angefangen? Dem Glücklichen schlägt keine Stunde?
Würde er vielleicht ein hoffnungsvoller Jungsozialist, der mit 16 Jahren, in der ostrepublikanischen Bauernpartei als Mitglied, registriert am 01. November 1954 in der Ortsgruppe Stadtroda, meinte, er gehöre als Landwirtschaftlicher Facharbeiter in diese Partei? War registriert worden, dass er trotz Berechtigung des Aufenthaltes im Fünfhundertmetergürtel der Staatsgrenze den verwandtschaftlichen Lockungen nicht folgte, am Priwal badete aber nicht im „Westen“ blieb, das Spielkasino in Lübeck täglich sah, den Vater in Hanerau-Hademarschen wissend, aber nichts ihn trieb? Galt er als sehr zuverlässig oder war er nur unreif?
Am Abend des „7 Novembers 1989“ stellten sich die Mitarbeiter der Kreisstelle für Staatssicherheit im Gebäude des bald entstehenden Lepsiusgymnasiums (heute Domgymnasium) unter Peos Ko-Moderation der Öffentlichkeit. Er empfand das von diesen Leuten mehr mutig als frech, denn viele im Saal sitzende Bürger hatten im Gegensatz zu Peo gelitten oder kannten Verfolgte, Eingesperrte, die zur Mitarbeit Genötigten oder Verhörten und waren auch nervlich so instabil, dass Handgreiflichkeiten verständlich gewesen wären.
Sie hatten wohl viel eher begriffen, was da oben im Podium an für die Hebel der Macht missbrauchten jüngeren und älteren Vertretern saß. Alles blieb friedlich.
Hatten sie evt. die Worte Erich Mielkes, des Ministers der berüchtigten Staatssicherheit, im November 1989 vor der Noch-Volkskammer missverstanden, welcher behauptete das er „alle Leute liebe“, damit also auch die Verfolgten und gequälten in seine Liebe einschloss?
Peo fragte nach dieser Veranstaltung im gymnasialen Pionierhaus, für welches er vom „Keller bis zum Boden“ die Wiederherstellung als Gymnasium forderte und welches er als neuer Kreisschulrat ein Jahr nach der Wende als Gymnasium (heute Domgymnasium) eröffnete, den Leiter der Kreisbehörde des Ministerium für Staatssicherheit, warum ihm nie in kleinster Weise etwas angetan oder verdeutlicht wurde (seine Abberufung als junger Schulleiter vor genau 30 Jahren empfand er nicht als Schmerz). Des Leiters Versprechen, er wird später noch als Herr Bach genannt, ihm später, wenn er nicht mehr durch Eid gebunden sei, die Zusammenhänge zu erläutern, wurde leider nicht vollzogen. Peo wartet immer noch auf ein Signal, obwohl er zugeben muss, dass es nicht so einfach ist, ihn in einem Schwarzen Loch, hier spielt ja die Handlung dieses Buches, welches alle Funkwellen schluckt, zu erreichen.
Der Philologe Victor Klemperer hat in seinen LTI - Texten Franz Rosenzweig mit „Sprache ist mehr als Blut“ zitiert. Hat man vielleicht darauf gebaut, dass er sowohl durch die Sprache der Region als auch durch das Blut mütterlicherseits, kombiniert mit naiver Sesshaftigkeit dem Land erhalten bleibt? War er vielleicht sogar in der Langzeitplanung der Leute, die sogar Geruchsproben ihrer Bürger in Einweckgläsern aufbewahrten, zur bedingungslosen Mitarbeit vorgesehen?