4.2. Herberge zur Neuen Heimat und das Gotteshaus
4.2. Herberge zur Neuen Heimat und das Gotteshaus St. Moritz
Die Flucht haben viele erlebt und erleben sie noch. Die Kinder werden wohl immer so behütet, dass nur die interessanten Teile im Gedächtnis bleiben? Auf Peo wirkten am Ende dieser Reise aus ostpreußischem Eis und Schnee, Bombenhagel in Berlin und Sirenengeheule, die über den Moritzwiesen vom Himmel fallenden Christbäume wie ein festlicher Empfang. Zum Glücksgefühl gehörte auch das Finden eines Fallschirmes im Seufzer, aus dessen weißen Stoff und Schnüren nützliche Dinge wie Blusen, Unterwäsche, Nähgarn entstanden, das Erschleichen von Obst und Gemüse in den Wiesen unterhalb des Bauernweges als immer geschickter werdender Mundräuber. Die heute bebauten Flächen lassen kaum mehr erahnen, dass auch diese Art von Kindheit und die umgebende Natur durchaus Sehnsüchte erwecken.
Sehnsüchte? Peo fühlte sich nie richtig heimatlich. Seine Kindheitserinnerungen aus Ostpreußen saßen tief. Er sah noch genau das Kriegerdenkmal, an welchem im Park immer sein Hütchen hing, bevor er vom Weg in den Kindergarten ab kam, um am Weiher spielen zu gehen. Entdeckt wurde der Versuchte immer, weil Apothekenkunden die Eltern auf das Hütchen ohne Kind aufmerksam machten.
Auch in der Domstadt ging man zum Kindergarten, gleich neben der Herberge zur Heimat. Dabei mussten die Kinder vom Georgentor durch die Saale waten, welche sich aus dem Bürgergarten in Richtung Moritzwiesen ergoss. Einem schneereichen sehr hartem Winter, er begann am 13. Dezember 1946 und steigerte sich bis zum 20 Dezember auf 25 Grad Celsius unter Null, folgte nach 24 Grad Celsius unter Null am 8. Dezember ein rasch einsetzendes Tauwetter, welches diese kindliche Auslegung von der durchfließenden Saale möglich machte.
Im Gegensatz zum kalten durch die Freyburger Straße rauschenden Wasser floss warmes Wasser aus den Hähnen der öffentlichen Wannenbäder in der Herberge zur Heimat am „Neuen Güter“. In regelmäßigen Abständen ließ die Mutter dort ihrem Nachwuchs gegen einen kleinen Obolus ein Wannenbad zukommen.
Fünfzig Jahre später fand die große Schwester, in die Jahre gekommene Ostpreußen hatten sich auf Heimatkurs begeben, in einem Sandhaufen der ehemaligen Heimatstadt, jetzt eine Wüstung, mit dem Fuß scharrend, hier musste die Apotheke gestanden haben, Porzellansplitter, welche vom Kaffeegeschirr der Eltern stammten. Ein Beutelchen davon jedem Geschwister mitbringend trieb die Sehnsucht aus und ließ die Wirklichkeit erscheinen.
„Peo, die Heimat ist verschwunden, so, wie die Wunde, welche zuwuchs. Du musst deine Vergangenheit abstoßen. Das ist eine persönliche Notwendigkeit des Unglücks!“.
Das leuchtet ein, mein sehr geehrter Philosoph Friedrich Nietzsche. Trotzdem bist du nicht der größte Sohn der Stadt, auch wenn Händel hier wiederum Dank seiner Oberflächlichkeit an deinem Denkmal den Versuch gestartet hat, damit mehr Licht auf seine Tat, am Denkmal mitgeholfen zu haben, fallen ließ.
Ein in der Stadt lebender Kunsterzieher mit einem größeren Wissensvorsprung hat das in der lokalen Presse gerade gerückt. „Der größte Sohn der Stadt auf dem Gegenplaneten, auf welchem die Geschichte unerbittlich abläuft, ist der erste deutsche Ägyptologe Lepsius, ein bedeutender Wissenschaftler des 19. Jahrhunderts.“
Und Nietzsche? In den Jahren 1844 bis 1900 auch einige Zeit in Naumburg lebend meinte zu Naumburg: „Bekommt mir schlecht, und der Ort hat nichts in meinem Herzen, was für ihn spricht. Ich bin dort nicht „geboren“ und niemals „heimisch“ geworden.“
Jetzt versteht Peo doch die Aussage einer Journalistin, dass man den ganzen Zarathustra und damit Nietzsche lesen muss, wenn man ihn verstehen will. Händel hat dessen Leiden in Naumburg nicht begriffen.
Die alte Heimatstadt Zinten, gegründet im Jahr 1313, war im Grenzgebiet der Sieger versunken. Nur einzelne Glieder wie die zerschossene Kirche, die alte Schule und Ruinen zucken heute noch im Todeskrampf, besiedelt von wenigen Umgesiedelten aus dem vorkaukasischen Sprachraum. Und Peo will es mit dem Heimatverlust nicht übertreiben. Was haben wohl Bürger in nicht vom Krieg betroffenen Landesteilen verspürt, als ihnen mitten im Frieden die nach Kohle, nach Uranerz suchenden Bagger den Heimatboden unter den Füßen weg fraßen, den Parteiideologen die bereinigten Grenzstreifen wichtiger waren, als heimatliche Lebensräume?
Seitdem, wenn auch spät, ist ihm die Türmestadt seelisch heimatlicher geworden. Er kann seinen in ihr geborenen Kindern, die flügge geworden nun viel außerhalb des Talkessels kennen gelernt haben und von ihrer Heimatstadt immer aufs neue schwärmen, zustimmen.
Welch eine Stadt!
Historisch erhalten, im Grünen liegend, den Abrissunternehmern erfolgreich widerstanden habend.
Auch schmückt sie sich immer mehr mit Vereinen, welche den Bürgersinn wieder kultivieren, Gemeinnutz vor Eigennutz stellen, deren Häuptlinge, ohne die es in der menschlichen Gesellschaft nun einmal nicht geht, der Anpassung als erfolgreiche Lebensform nicht das Wort reden, diese Lebensart auch selbst durchgehalten, gepflegt haben, sich nun auch öffentlich bekennen dürfen.
Eine neu entstandene Form der Abhängigkeit von einer Partei sei entschuldigt. Man trägt schwarz und ist hörig den Schwarzen oder eben der regierenden Farbe. Somit bleibt alles beim Alten.
Früher holte sich der Kreissekretär der Einheitspartei aus der Betriebsküche des VEB Metallwaren sein wöchentliches Fleischpaket und aus dem Büro des Betriebsleiters seine wöchentliche Schnapsflasche. Heute geht die fragwürdige Spitze der Gesellschaft zur Tafel und zum Festbankett, nimmt nicht mehr die Dekorationspflanzen, wohl aber die Sektgläser unter dem Mantel mit.
Nun aber weiter mit der Stadt im Grünen.
Rundum versammelt sind Fundorte, Weinberge, Schlösser und Burgen, historische Dorfanlagen, Dome, Klöster und Kirchen, Stadtanlagen, Archäologische Denkmale, historische Landnutzungen und technische Denkmale. Eine Stadt mit vielen gastlichen Quartieren, mit Wochen- und Taubenmärkten. Eine Kreisstadt, die alles um sich herum von einem Ende des Kreises zum anderen zu bieten hat.
Eine Lebensaufgabe für geschäftstüchtige und geschäftsführende Tourismus-Managerinnen der ersten und weiteren Stunden wie für Andrea Mayer und Iris Breuer, die sicher viele weitere Namen aufzählen können, wenn sie gefragt werden.
Und das im friedlich zusammen gewachsenen Regionalverbund mit Autobahn zur Bundeshauptstadt und nach Bayern, mit Kohlenrevier und Weinberglandschaft, mit Schuhmuseum und Schloss, mit Flüssen, Schlössern und Burgen, mit Kneipp- und Luftkurort, mit Sekt- und Zuckerproduktion, mit Weingut und Pfortenser Bibliothek, mit Dom und unterirdischen Gewölben, mit Girbigs als Darsteller der Figuren Uta und Eckehartd, mit der Dolmengöttin aus Langeneichstädt und dem Gosecker Sonnenobservatorium, mit Zementfabrik und Milbenkäserei, mit Puppentheater und der Weltsensation Himmelsscheibe, mit profilierten Schulen und Vollzeitberufs-ausbildungen, mit neuesten Nachrichten und Ausflugszielen im Supersonntagsblatt, im Wochenspiegel und im von Parteien infiltriertenTageblatt.
Ein Besuchermagnet ist noch zu aktivieren, die „Naumburger Kirche Sankt Moritz“.
Ein schlicht gehaltenes, schmuckes und anheimelndes gotisches Bauwerk mit weithin sichtbarem Süd- und Nordturm und original erhaltenen Fundamenten aus dem Gründerjahr. Noch ruhen in ihr, dem einzigen Zeugnis eines mittelalterlichen Benediktiner- Klosters aus dem Gründerjahr 1021 und kaum beachtet, die farbigen Chorfenster mit Szenen aus dem Alten Testament, vom Berliner Maler Gerhard Olbrich 1957 geschaffen, die 15 Gemälde des italienischen Malers Francesco Albani, die Orgel und Bestuhlung aus dem 19. Jahrhundert, die barocke Wandmalerei. Im Jahr 2008 beginnen nun Aktivitäten wie Vorträge, Tage des Offenen Denkmals.
Das alles wussten die Kinder gleich nach dem Krieg noch nicht.
Weniger glücklich machten den Verliererkindern die Strickstrümpfe, die Leibchen mit den Strumpfhaltern, bei Römbach in der Herrenstraße erstanden, die Hosen und später auch der schwarze Anzug in Stadtroda von Schirmschmitt, die Igelitschuhe, die mit Butter bestrichenen und Zucker bestreuten dicken Weißbrotbemmen der Kinder der Siegermächte von nebenan, vom Georgentor 6, welche diese verdrückten. Aus heutiger Sicht ein sehr bescheidener Vorzug, wenn ich an die Leiden der Vertreiber denke, wie vom russischen Schriftsteller Wassili Grossmann sachlich geschildert, welche Peo zum Vertriebenen werden ließen. Hier, in der Antiwelt unterschied man sich vom Erdplaneten. Auseinandersetzungen hatten auch kriegerischen Charakter, führten aber nicht zu jahrzehntelangem vorwurfsvollen Denken und Handeln.
Später, in seiner Rolle als Dezernent an einer Tagung der Heimatvertriebenen teilnehmend, konnte er von Vernunft geprägt vortragen, sich nicht in Positionen zu verlieren, die Geschehenes reversibel, sprich umkehrbar gestalten.
Eventuell!Die wörtliche Rede dazu erscheint im zweiten Teil oder auch Kapitel genannt. Auch erscheinen chronologisch Pressedarstellungen, Protokolle des Runden Tisches und weitere regionale Ereignisse und Unterlagen.