4.3. Apfelnde und nichtapfelnde Pferdestärken
4.3. Apfelnde und nichtapfelnde Pferdestärken
Peo war ein Dickkopf. Er benutzte auch 25 Jahre später, nun zwangsvollstrecktes Mitglied eines Kollektivs der sozialistischen Arbeit, die Traditionsbegriffe wie Herren-, Salz-, Marien-, Jakobsstraße und nicht Klement- Gottwald- Straße usw. Eine immer am Türrahmen zwischen Schulleiter- und Lehrerzimmer angelehnte und lauernde städtische Schulverwaltungsangestellte korrigierte ihn dann immer aus einem Meter Entfernung mit einem Wortschwall, aus welchem Fetzen wie „so was will Pädagoge sein“, „feindliche Einstellung“ erklangen. Dabei flogen ihm auch hin und wieder Frühstückskrümel aus dem Rachen der Systemhydra um die Ohren.
Dabei hing Peo an dieser Straße. Hier für er mit der Straßenbahn durch, hier war die Eisdiele Gamba zu Hause, die Kugel für 10 Pfennig. Hier begegneten sich Russenlaster und Straßenbahn und ließen die Knaben wetten, wer nachgibt. Hier wäre er beinahe Bewohner in der Lorbeerbaumapotheke geworden, hier holte er oft mit seinem kleinen Hund Tückie den Vater, der ihn bald im Stich ließ, ab. Hier ging er mit der Mutter durch, um das Kino in der Jakobstraße zu besuchen. Hier fragte er das erste Mal seine Freundin und spätere Ehefrau, ob er sie küssen dürfe.
Wo? Genau an der Ladenecke zum Markt, dort, wo sich beim „Schuhe angucken“ die Köpfe und Münder unverfänglich näher kommen konnten. Man war ja schließlich nicht mehr sechzehn, um kinoreif gleich loszuknutschen.
In dieser Straße kaufte er Weinachten 1957 sein erstes Motorrad, eine AWO, im Laden für „Kraftfahrzeuge und Zubehör“, jetzt ein Modehaus. Kaum drei Monate als Feldbaubrigadier in der Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaft „Phillip Müller“ in Pötenitz, ein Ort im Kreis Grevesmühlen, tätig, war der Erwerb möglich.
Das erste Dienstfahrzeug war ein Fahrrad.
Das erste dienstliche Motorfahrzeug war ein Fahrrad mit Hilfsmotor, der sogenannte Hühnerschreck.
Das erste privateigene Motorrad war eine AWO- Sport. Welch eine rasante Entwicklung der zur Verfügung stehenden Fortbewegungsmittel innerhalb der ersten vier Monate als Werktätiger.
Es war die AWO mit den verchromten Felgen und der geteilten blauen, weiß umrandeten Sitzbank. Der gerippte weiß überzogene versenkbare Mittelgriff für den Sozius soll hier nicht unerwähnt bleiben. Lederkappe, Stulpen, Motorradbrille – aus heutiger Sicht verkehrsuntüchtige Utensilien. Auf der jetzigen Autobahn mit der Nummer neun ging es, am Anschluss Coswig abfahrend, in Richtung Schwerin. Peo war kein Raser und so überholten ihn die stolzen Java-Ritter, nicht ahnend, dass diese sich schnell heiß liefen und Peo bald mit seiner oberölversorgten Tankfüllung die Viertakter an ihnen vorbeischnurren ließ.
Noch ohne AWO, aber mit einer neuen mechanischen Photokamera Praktika FX2 ausgerüstet, spazierte Peo im September 1957 durch Leipzig, als er sich neugierig dem Aufbauteam eines Podiums näherte und erfuhr, dass der sowjetische Kremlchef Nikita Chruschtschow nach seinem Stadtbummel hier reden werde. Sein naiver Glaube, er könnte vom Rand der Bühne ein Photo von einem Menschenfreund schießen, ging gewaltig daneben. Urplötzlich standen bestellte Menschenmauern mit sicherem Abstand vor dem Standplatz des erwarteten Tribuns und Peo, der Jungsozialist wurde sehr unhöflich verjagt. Das war für einen neunzehnjährigen noch gutgläubigen Jungerwachsenen zu viel und damit ein weiterer Würfel in Richtung Opposition gefallen. Der Leser möge nicht enttäuscht sein, aber der eine hat einen geistigen und der andere einen körperlichen Anstoß nötig, um am Regime Stück für Stück Missfallen zu finden.
Nun aber zurück zur Lehrerzimmeraufsicht. Die geliebte Herrenstraße löschen? Dann lieber Ärger mit der Unterwelt des Regimes, der Staatsverwaltung und ihrer Lebensordnung.
Bergstraße und Bahnhofstraße löschen? Hier wurden Schlachten geschlagen. Die Henneboldbande, Sohn Hennebold aus dem Gemüseladen auf der ältesten Straße der Domstadt gegenüber dem Bürstenmacher Steinbrück auf dem Steinweg war der Anführer, gegen das Georgenviertel, es gab ja genügend Holzlatten.
Die Schlittenfahrer gegen die Kistenrutscher am Hang zur Bergstraße- Ecke Georgenberg, es gab noch schneereiche Winter. Und die Bergstraße war außerordentlich gefährlich. Hier fuhr die Straßenbahn über untergelegte MG- Patronen, gefunden in einem Domteich der Domgärten. Hier saß 1945 Peos fünfjähriger Bruder mutterseelenallein in der verlassenen Straßenbahn und wartete auf das Ende des Fliegeralarms.
Und hier fuhr 31 Jahre später Peo mit seinem dreijährigen Sohn im Arm in der Ille bergab, um am Bahnhof Dampflokomotiven zu bewundern, welche knackend, prustend, dampfend, nach Ruß und Schwefel riechend auf das Grün des Signals warteten. Was nicht auf dem Fahrschein stand sondern nur in den Analen der Vorsehung war, dass es sich an diesem Tag um den „Tag des göttlichen Experiments“ handelte.
Der erfahrene Bürger der Deutschen Demokratischen Republik kennt diese Besonderheit der Benennung von Ehrentagen. Der Ille, welche sich im letzten Drittel der Bergstraße der Stadt Naumburg an der Saale befand, fielen die Mehrzahl der Bremsanlagen aus und die Bahn übte bergab den fast unbehinderten „Freien Fall“. Wir Fahrgäste standen sofort an der offenen Tür, um die Kurve mit einem Absprung zu nehmen, falls der Bahn die Kurve nicht gelang. Wir und die stadtbekannte nun aber alle Kurbeln drehende und Hebel hin und her schwenkende grob fluchende Wagenlenkerin hatten in diesem Jahr 1976 Glück. Stark vibrierend und rüttelnd vor Erregung schaffte Ille den Bogen und langsam auslaufend ging es an der damals noch blühenden Gärtnerei Hahn, einer heutigen Wohngebietsdeponie zur illegalen Entsorgung, vorbei zum Stillstand. Ein wenig Bremskraft war wohl noch von der Vorsehung vorgesehen und unsere Herzen konnten weiter schlagen, auch in Sympathie für die alte Dame Ille, welche in ihrem Alter schon einmal stolpern durfte.
Wie nun: Vorsehung? Gelungenes Experiment? Zufall? Warnung?
Zurück in das Lehrerzimmer. Peo empfahl später, das vorgezeigte Sozialverhalten der sich dazu verpflichtet fühlenden Parteisoldaten und Begleittrossangehörigen als Forschungsthema aufzunehmen, denn er hatte die Ahnung, dass in verschiedenen Gesellschaftsformen unter deckungsgleichen Bedingungen immer wieder auch die gleichen Verhaltensweisen auftreten.
So etwas spürten ja leider auch die Menschen, welche unter Diktatoren in die Haftlager, zum Beispiel nach Buchenwald, mussten. In denen gab es trotz sehr gegensätzlicher Ideologien der Verurteilenden keine Unterschiede in den Verhältnissen und in den Verhaltensweisen der mit der Vollzugsmacht spielenden Aufseher, welche eben noch Mitbürger waren. Oder dienten die Exzesse der Betäubung des eigenen Unwohlseins, einer äußersten seelischen Not, welche diese nicht einmal bewusst wahrnehmen mussten? Haben die Schergen sich nicht nur begeistert hingegeben, sondern sich selbst damit zum Opfer gebracht?
Die schnell beginnende Schulzeit diente mehr oder weniger am Anfang der Beschaffung von Nahrung und Heizung, führte zu vielerlei Schulstrafen, Auseinandersetzungen mit Musterpädagogen. Deren Verhalten war für ihn, den späteren Lehrer, ausschlaggebend und ließ ihn später den Umgang mit seinen Schülern viel lockerer sehen.
Auch wenn er noch nichts von Waldorfschulen wusste, beteiligte er sich schon in jungen Lehrerjahren an der Duldung von weniger guten Rechtschreibkenntnissen, wenn nur der Wille zur Besserung und sichtbare andere Begabungen wie Kommunikation und Künstlerisches vorlagen, drangsalierte nicht die unmusikalischen, unsportlichen, die untalentierten Maler, die physikscheuen und die mathematischen Talente, welche immer noch etwas mehr ausrechneten, als eigentlich möglich war.
Nach acht Schuljahren, das erste begann noch in Ostpreußen, also in seinem vierzehnten Lebensjahr, wurde ihm der Zugang als Lehrling in die Forstwirtschaft, dann in einem Honmaschinen bauenden Betrieb, dort wurden Maschinenteile äußerst fein geschliffen, in der nun schon siebenjährigen neuen Heimat, der Kleinstadt, verwehrt.
„Dein Vater hat 1951 die Republik verlassen. Der Kreisapotheker mit dem Lorbeerbaum über dem Entree in der Herrenstraße ist nicht unserer Partei, der Einheitspartei, beigetreten“. Nördlich der Elbe fand er zu seiner zweiten Familie, welche er schon nach 1945 gegründet hatte. Die Mutter und ihre vier Kinder blieben, ließen die Großeltern nicht allein. Der schon eingeleitete Umzug der Familie in die über der Lorbeerbaum-Apotheke freigewordene Wohnung konnte nicht mehr vollzogen werden.
Wenn Peo nun im fortgeschrittenen Alter, also jetzt um 2010 als Kunde die Marientor-Apotheke aufsucht und von Apothekerin Claudia beraten wird, dann sieht er hin und wieder hinter ihr den Schatten seines hier einmal tätig gewesenen Vaters vorbeihuschen und wünschte sich, ihm, dem Urgroßvater seine ein- und zweijährigen Enkel, Johannes und Theodor, vorstellen zu können.
Peo wurde also nicht ein in Königsberg ausgebildeter Pharmazeut mit Erbanspruch auf die väterliche Apotheke in Zinten, sondern zunächst ein Facharbeiter für Acker- und Pflanzenbau auf einem landwirtschaftlichen Gut. Im Gegensatz zu ihm wurden seine zwei Halbbrüder ohne Umwege Pastoren und die Halbschwester eine Lehrerin.
Stolz zeigte er seinem zwei Jahre jüngeren Bruder noch vor dem offiziellen Beginn der Lehre 1952 den Zugochsen, welchen er im Stall vor eine Schleppe spannen musste, um das Endprodukt auf den Stell- und Liegeflächen der apfelnden Rosse aus dem Stall zu transportieren. Leider genügte eine kleine Unvorsichtigkeit, und das rotbunt gefleckte Riesentrampel quetschte dem kleineren nicht sehr schlimm, aber schmerzhaft einen Finger.
Wie groß war die Freude, wenn man zum Stalldienst bei den acht Ackerpferden, vom Haupteingang hinten links liegend, eingeteilt wurde. Erst Futter in die Traufen, dann den Apfelmist auf eine Schleppe, die besagtes Trampeltier auf den dem Stall gegenüberliegenden Misthaufen zog. Dort wurde ganz ordentlich gestapelt. Dann wurde mit Striegel und Kartätsche Hochglanz auf die Rösser gebracht. Nach dem Fegen kam der kriegsversehrte und mit einem Holzbein kräftig stapfende Stallmeister (sein Grabstein ist 2010 in Schulpforta noch auffindbar), respekteinflößend und eine Seele zeigend, zur Begutachtung. Der Dienst der Rösser begann, nachdem diese noch einen kräftigen Zug aus der Tränke, gleich hinter dem mit Mauer und Rohren abgeschirmten Stallmiststapel sich befindend, wie auch am Ende des Zugdienstes, nehmen durften.