5.2.2. Die Möhren fressende Ziege

5.2.2. Die Möhren fressende Ziege

Nun erst einmal zurück in das erste berufliche Drittel.

Einem Jahr als Agronom- Assistent im Ostseeraum den Feldbau mit organisierend und einem weiteren im mitteldeutschen Raum folgte ein Studium. Um dahin zu kommen, bedurfte es einer Eingabe beim Kreis-Chef der Einheitspartei. Peos Arbeitgeber ließ ihn nicht dem inneren Ruf, Lehrer werden zu wollen, folgen. Er war als Agrardozent, so hieß das nun einmal, in der Abteilung Landwirtschaft der Kreisverwaltung tätig. Zu dieser berufliche Unterkunft verhalf ihm ein durchaus beliebter, sich teutonisch gebender echter Agrardozent der Fachschule für Landwirtschaft, der FaFuLa, ein Mensch, der gerne das Kind im Manne, oder muss man am Mann sagen, pflegte.
Dieser Ort Stadtroda, einmal befestigt und durch ein Stadttor geschützt, soll einst einer Ziege zum Opfer gefallen sein. Diese fraß den Stecker eines Torriegels, eine Möhre, auf und ließ die Belagerer eindringen.
In diesem Städtchen absolvierte Peo vor seiner Tätigkeit in der Kreisverwaltung eine dreijährige Fachschulzeit. Männer wie die Dozenten Mühlberg, Weber, Kind, Zosel, Beling, die aufeinander folgenden Schulleiter Cäsar und Krüger hatten mit den Jungerwachsenen ein leichtes Spiel.

In den Jahren 1954 bis 1957 galten noch die Anstandsregeln wie Achtung dem Jüngeren und Respekt gegenüber dem Älteren. Diese Tugenden wichen ab den neunziger Jahren, also nach der Wende, immer mehr den Regungen aus Frust und Hoffnungslosigkeit, welche die Politiker des freiheitlich demokratischen Rechtsstaates und eine vermurkste Justiz den Jugendlichen, den Gewaltopfern bescherten.
Nicht ein einziger Fachschüler hätte es 1957 über sich gebracht, einer Weisung bei Tisch, im Internatszimmer oder im Unterrichtsraum der beliebten, von Statur aus zierlichen Biologielehrkraft Frau Selle, zu widersprechen, sich unhöflich zu verhalten. Hoffentlich kann ihre Nachfolgerin, die Gattin des Urologen, über deren Wirken in Stadtroda Peo im Jahr 2007 Kenntnis erhielt, ähnlich erfreuliche Erlebnisse verkünden. Vermutlich nicht, denn die Erscheinungen der Zeitläufte sind sicher auch in der Thüringer Kleinstadt eingezogen. Der Internatsgarten, damals noch gepflegt und mit einem Molchgewässer, einem ein Meter großen Ameisenhaufen besetzt, glich 30 Jahre später einer Wüstung.

Im Jahr 2008, also einundfünfzig Jahre späte, machte Peo mit diesen Verhaltensregeln wieder Bekanntschaft, als ihm sein dreißigjähriger Bekannter aus dem Jemen praktizierte und erzählte, wie es in seiner Heimat zugeht. Vater, Mutter und alle Erwachsenen werden mit Sie angesprochen. Es duzen sich Brüder mit nicht zu großem Altersunterschied, Schwestern und gleichaltrige Verwandte. Dabei sind trotzdem eigener Stolz, die Freiheit des Wortes und keinesfalls Unterwürfigkeit erlaubt.

Nun aber weiter mit dem Leben in der Fachschule Es fand eine Gruppe junger Männer zusammen, welche durch dick und dünn ging, bestehend aus Georg, dem erfahrenen und zehn Jahre älteren Endsiegteilnehmer als Seele des Ganzen und eine Seele von einem Menschen, aus Dieter aus Franfurt/Oder, der seine zwei großen Lieben fand und bei der zweiten bis heute blieb, aus Fritz, dem Schlesier und späteren LPG-Vorsitzenden in Möhrsdorf, der seine großen Hände Dank seiner Muskeln wie Schraubstöcke einsetzen konnte, ein ganz lieber und gutmütiger Riese, und immer noch in Möhrsdorf lebend, und aus Peo, dem Naumburger Ostpreußen. Diese sechzehnjährigen Knaben, Georg war wie gesagt zehn Jahre älter, genossen ihre Zeit. In einem Turmzimmer des Internates. Den gusseisernen Kanonenofen selbst heizend, wurden an ihm Brotscheiben gebraten. Diese mit Margarine bestrichen und mit Salz aufgewertet, waren ein winterlich tägliches Ritual, eine Freudenstunde.

Am 12. Oktober 2008 stöberte Peo, nun siebzigjährig, nochmals durch den Ort. Das Internat ist den Garagen gewichen. Die Fachschule ist umbenannt und ladet zur Aufnahme ein.

Im Wohngebiet „An den Gärten“ las er den Namen seiner ehemaligen Angebeteten Inge Faulwetter. Ein freundlicher Einwohner, welcher im Garten aufräumte, wusste Bescheid. Die Inge ist im vergangenen Jahr verstorben. Inges Schwester, die Gattin eines Fachschullehrers Weber ging kurze Zeit danach. Unser freundlicher Dozent für Chemie und Ackerbau verabschiedete sich zwischen beiden Todesdaten. Also kein freudiges Wiedersehen.

Früher kam Freude auf, wenn in der Kneipe von Milo Barus, einem Thüringer Original in einem Eckgebäude am Stadtrodaer Markt, geskatet wurde. Der erzählte dann auch schon hin und wieder von seinen Kunststücken, setzte auch schon mal einen ungebärdigen Gast auf den Kachelofen.
Heute gibt es dort asiatische Küche, welche Peo und seinen Freunden sicher auch gefallen hätte.

Wer mehr erfahren will, der gehe durch das Holzland in Thüringen und stoße dann auf Milos späteres Wohnhaus, jetzt die Gaststätte „Milos Waldhaus“, gleich neben der Meuschkesmühle.
Freude durchrieselte die Knaben auch, wenn Georg, der ältere von uns, die Margarineverkäuferin im Lebensmittelladen der Handelsorganisation (HO) gleich unterhalb der Fachschule fragte, wo es denn den gewölbten Blusenstoff gäbe. Georg, aus Tegau bei Schleiz stammend, war schließlich schon verheiratet und Vater zweier Kinder. Er meinte wohl, uns ein wenig ländliche Lebensart beibringen zu müssen. Und siehe da: Die Verkäuferin, noch nicht durch Gleichstellungsbeauftragte, Personalratsaushänge und Frauenrechtlerinnen verbogen, lachte einfach, sicher auch etwas stolz durch die kleine erotische Aufmerksamkeit, warf ein paar Gramm Margarine mehr auf die Waage und grüßte zurück mit einem belustigten „Auf Wiedersehen bis zum nächsten Einkauf“.
Gepflegt und ganz gesittet ging es zu, wenn der jährliche Fachschulball zu absolvieren war. Die Mädchen hatten sich ja wie immer ansehnlich herausgeputzt. Die Jungen, in der Mehrzahl so um sechszehn bis achtzehn Jahre jung, erschienen in dunklen Anzügen, weißen Hemden und silbrigen Schlipsen, so wie man sich auch festlich zu Weihnachten kleidete.

Peos Anzug stammte aus dem Hause Römbach, einem gediegenen Bekleidungsgeschäft am Ende der Herrenstraße in Naumburg. Aus den Häusern „In den Gärten“ stammend, wird Tanzpartnerin Inge nie verblassen. Abiturientin, fröhlich, schön und viel zu klug, um Peo auch heute noch ruhig schlafen zu lassen, wenn er an seine wenigen, aber sicher einiger Korrekturen bedürfender Mitteilungen an ihr Krankenbett, eine Fraktur war die Ursache, denkt.

Drei Jahre später: Als Agrardozent hatte Peo die Aufgabe, nicht nur zufällig nebenbei in einer Abiturklasse im Unterrichtstag der Produktion aus der Pferdezucht berichtend, am Lehrerberufsstand Feuer gefangen und nicht im Entferntesten daran gedacht, dass er nicht immer einundzwanzig Lenze jung bleibt und ihm nicht immer ausgewachsene Schülerinnen in einer Thüringer Kleinstadt an der Roda doppelstundenlang atemlos, ihre Mähnen spielen und die Augen funkeln lassend, zuhörten, was im Umgang mit Pferden alles passiert.

Viel später, im Jahr zweitausendsieben, das Haus nennt sich nun Pestalozzi- Gymnasium, bereiten die immer gleich jung bleibenden Schülerscharen das Einhundertste vor. Ein Gedicht ist Peo diesem schönen Anlass in „Peo, kein Dichterfürst“ schuldig.
Es könnte ja so beginnen: Da steht sie nun schon hundert Jahr.
Mit Falten und mit Rissen.
Auch Unschönes in ihr geschah.
Hat sie ein schlecht Gewissen?
Ursach und Wirkung macht sie nicht.
Sie hat mit zu ertragen.
Was der Pedant sich ausgedacht.
Womit sich Schüler plagen.
Die lernen, lieben, wandern aus.
Bald Wonneproppen kommen?
Die schicken sie ins alte Haus.
Ich hoff ihr habt’s vernommen.

Nachtrag aus dem Schaffen von Friedrich Nietzsche:
Bleibt nicht auf ebnem Feld!
Steigt nicht zu hoch hinaus!
Am schönsten sieht die Welt
Von halber Höhe aus.



Ja, was passierte denn nun so mit Pferden?

Am Priwall in der Lübecker Bucht setzten Pferde aus der Koppel über den niedrigen Grenzzaun. „Wenn ihr die Pferde haben wollt, müsst ihr sie holen“, rief da jemand grinsend. Der Grenztruppenkommandant erläuterte Peo zunächst die Verfahrensweise. „Botschaft- Ost an Botschaft- West. Kann Tage dauern“. Dann drehte er sich nach Osten und steckte sich eine an. Peo drehte sich nach Westen und mit einem kleinen Satz und mit wenigen Sprüngen war er über den knapp einen Meter hohen Staketenzaun des Jahres 1957 in der Hinterhand und konnte seine dringend benötigten Zugtiere wieder am Rücken des wachenden Genossen vorbeitreiben. Hier bekam wohl Peo erstmalig den Anstoß, verkrustete Bürokratiehürden kreativ, wenn auch mit drastischen persönlichen Folgen (siehe Abberufung als Schulleiter 1968 durch den Kreistag des Kreises Naumburg, siehe Abberufung als koordinierender Schulrat 2004 durch den Kultusminister Reck, den mit dem schwarzen Bart) zu überspringen.
Nicht um Hafer fressende Pferdestärken ging es, wenn die AWO bewegt wurde. Peos Bruder Hans, noch ohne Fahrerlaubnis, setzte sich die Lederkappe auf, bekam des Bruders Papiere und machte innerhalb und an Dassows Schlagbäumen vorbei auch außerhalb des Grenzgebietes seine Ausflüge. Denkt man jetzt, 51 Jahre später darüber nach, erscheint das einem doch etwas sehr leichtsinnig. Diese Episode konnte den Abiturienten vom Jahrgang 1958, den Veranlassern seines Laufbahnwechsels, natürlich nicht vorgetragen werden.
Die erfuhren dafür, wie zwei junge Männer mit einem Kraftrad RT von Naumburg bis nach „Trassenheide an der Ostsee“ samt Zeltausrüstung Urlaub machten.

Oder: Schwere Kastenwagen voller Zuckerrüben mussten am hängigen Köppelberg, jetzt ein Weinparadies, aus dem Dreck gezogen werden. Wenn die Böcke erst einmal den Wagen ins Rollen brachten, gab es kein halten und der kutschende und fluchende Lehrling, die Flüche trug der Agrardozent den Schülern im Brustton und im Original vor, glaubte an sein letztes Stündlein.

Oder: Essenreste wurden aus der Kaserne, hier Napola genannt, geholt. Auf dem Rückweg wurden beim westlich der Kleinstadt lebenden Bäckermeister 12 große Brote für die Gutsküche aufgeladen. In der Kurve am Ortsausgang plederte plötzlich der Müller aus dem Kurort auf einer Zweizylinder- Boxer- BMW vorbei. Beleuchtete Geschwindigkeitsbegrenzungen gab es noch nicht. Neidisch gemacht, rasten nun auch die zwei Pferdestärken los. Lenken ging nicht, sie hatten sich in die Trensen verbissen. Die Pferde hielten erst wieder vor dem Stall, dessen Tore Gott sei Dank, denn Peo war ja gerade erst konfirmiert gewesen, geschlossen waren. Die Kurve in das Gut nahmen sie so elegant, dass Brote, Futterkübel und Kutscher ohne Umweg, losgelöst vom Pferdewagen, vor ihren zugehörigen Eingängen landeten. Der Fachmann sagt dazu: „Die Pferde sind durchgegangen.“

Oder: Lehrling Peo ritt aus. Der erste Beschäler, was ist das und wie geht das meine jungen Damen und Herren, nach dem Krieg war eingetroffen. Einen artigen Gang ausprobierend fühlte sich der Proband, des Reitens nicht allzu kundig, behuft, einen Trab anschlagen zu lassen. In den Galopp übergehend, lag er plötzlich auf dem Boden des Feldes, gleich unterhalb des Bahndammes auf der dem Gut zugewandten Seite. O je, wo ist das edle Tier? Es stand neben ihm und wartete darauf, artig zum Hof geführt zu werden, eben ein Ostpreuße, ein Trakehner. Zwischen seinen gelben und reichlich abgemahlenen Zähnen, man war schon über zwanzig Lenze gesprungen, rülpste er Peo grasfressend ins bleiche Gesicht: „Hallo Kumpel, alter Ostpreuße. Ich auch Ostpreuße“.

Oder: Im Herbst bekamen die Milchkühe, nun einmal nicht über Pferde, im Stall Rübenblätter mit den daran hängenden Resten des Zuckerrübenkopfes. Bei einer Kuh blieb trotz des Widerkauens im Enddarm ein grobes Stück hängen. Die Kuh verstopfte und begann, einen aufgeblähten Eindruck zu machen. Der herbei eilende Tierarzt stellt sich seitlich, maß zunächst die Körpertemperatur, reichte dem Stalldienst Peo, welcher sich hinter der Patientin aufstellen musste das Thermometer und nahm dann einen rektalen Eingriff vor. Er löste mit dem tief eingeführten Unterarm vorsichtig den Stopfen. Die bedankte sich ob der Fürsorge und entließ die Pressluft, angereichert mit dem Verdauungsextrakt mehrer Mahlzeiten in die Richtung, in welcher der Lehrling sich aufhielt. Wer beim Spazieren gehen über Felder und Weiden schon einmal auf die von den Rindern abgesetzten grünen Wiesenchampions getreten ist weiß die Konsistenz zu schätzen. Es bedurfte einiger Mühe, sich vom Mützenschild bis zu den Knien der Einheitsfärbung zu entledigen.

Also weiter zur Lehrerwerdung. Der Vorsitzende des Rates des Kreises stimmte der Bewerbung des einundzwanzigjährigen Peo zum Studium am Pädagogischen Institut in Erfurt nicht zu. Heute hört man hin und wieder einen, sicher nicht sehr ernst gemeinten, Seufzer „Ach gäbe es doch noch die Parteikreisleitung. Dort konnte man sich noch beschweren“. Peo tat es damals und der „Erste Sekretär der Kreisleitung der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands“ in Stadtroda verhalf ihm zum Lehrerdasein und damit zu zwei wunderbaren Jahren in der Gartenstadt Erfurt, welche Peo regelmäßig auch heute noch besucht.

Die Seufzenden sollten aber vorher überlegen, wie heute Toiletten, Gaststätten, Tankstellen, ihre Küchen und Heizungen, ihre Bäder von Ritter, ihre fesch gekleideten Töchter und Söhne, ihre Autos von „Senger und Kraft“, vermittelt von Myrians Gemahl, und ihre Polstermöbel, ihre Reiseziele und überzüchteten Hundemiezen aussehen. He, wollt ihr Bewohner des anderen Stern das alles eintauschen?

Und vergesst nicht. Manch einem behagt heute der gläserne Bürger nicht. Der ist doch aber, wenn er der Sicherheit und dem redlichen Bürger dient besser, als der, welcher dank einer Diffamierung im kommunistischen System „plötzlich verschwunden und doch nicht weg“ ist, nur eben im Zuchthaus.
Im Physikunterricht kamen die Schüler schnell dahinter, dass damit die Energie gemeint war.
Im gesellschaftlichen Leben der untergegangenen Republik waren damit Väter, Mütter, Jugendliche, Kritiker, Künstler, Mediziner, Parteimitglieder, Lehrer gemeint, welche in den Nachtstunden abgeholt wurden, deren Verwandte und bekannt oft wochenlang nicht erfuhren, dass sie im Staatsknast saßen und warteten, was mit ihnen geschehen werde, deren unmittelbare Nachbarn sich wunderten, warum diese sich nicht verabschiedet hatten oder, wenn sie sich nichts zu sagen hatten, wenigstens über den Buschfunk etwas erfahren haben müssten.

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