4.1. Lichtblitze und Kriegsbeute
4.1. Lichtblitze und Kriegsbeute
Es war ein ausgesprochen kalter Januar im Winter 1945. Im Flur einer Apotheke Markt 14, am Marktplatz der kleinen ostpreußischen Stadt, gleich östlich hinter Stalins Grenzstrich gelegen und heute geschliffen und nur noch als Wüstung vorhanden mit halbem Kirchturm und überlebtem Schulgebäude, stand ein Kinderwagen. Er war mit dem Nötigsten gepackt. Mit warmen Decken, reinem Alkohol zum Tauschen, einigen Lebensmitteln. Mitten darin die Kleinste, noch kein Jahr alt. Daneben waren dick angezogen 3 Kinder zum Abmarsch in Richtung Königsberg oder die umliegenden Wälder, ja wohin eigentlich in diesen letzten Augenblicken ohne den im Krieg dienenden Vater, bereit.
In letzter Minute hielt vor dem Haus ein Sanka, ein Sanitätskraftwagen. Der Freund der Familie, Zahnarzt Kowallik aus der Kreisstadt Heiligenbeil, stürmte ins Haus. „Lasst alles stehen und liegen, steigt ein“.
Die Mutter nahm das einjährige Baby auf den Arm, die zehnjährige Schwester den vierjährigen, hinter sich ziehend den sechsjährigen. Alle fünf waren untergebracht. Die Tür schlug zu und los ging die Fahrt, vorbei an Flüchtlingstrecks, teils über die gefrorenen Felder. Zu sehen war nur wenig durch die schmalen ausgesparten Streifen des Milchglases.
Was gibt es noch an verblassten Erinnerungen aus 1945 im Jahr 2006?
Nach der Fahrt verbrachten alle in einer Baracke in der Nähe eines Rollfeldes. Am Morgen wurden sie durch heftiges Schneetreiben im fahlen Morgenlicht zu einem Flugzeug geführt. Die Große, die Zehnjährige, schob den Kinderwagen, vorbei an aufgetürmten Schneemassen. Vor der kleinen Gruppe versuchte ein in warmes Leder gekleideter dicklicher Offizier eine Truhe durch befehligte Soldaten in die Seitenluke zu bugsieren. Er nutzte alle Hebel, die einem mit einer Waffe und militärischen Helfern ausgestatteten Offizier zur Verfügung standen, um sich durch zu setzen. Heftige Proteste und körperlicher Einsatz der Mütter ließen ihn von diesem Vorhaben Abstand nehmen. Was war wohl für eine Beute in dieser stabil und sehr verschlossen wirkenden Kiste? Hätte man so weit gefächert Teile des legendären Bernsteinzimmers aus dem militärischen Kessel einem zentralen Ziel zuordnen wollen? Aber dann wäre die militärische Eskorte sicher drakonischer und weniger auffällig vorgegangen. Oder war das so kurz vor dem Untergang des Dritten Reiches eine ausgedachte Methode, sicher im Hinterland anzukommen? Hin und wieder nimmt Peo einen faustgroßen Klumpen Bernstein in die Hand und lässt seiner Phantasie freien Lauf. Gefunden wurde er in einer Königsberger Baugrube. Aufbewahrt wurde er von dem zuständigen Baumeister, weitergegeben an dessen Schwester, der Großmutter Peos.
Kurz nach dem Einstieg der Mutter und ihrer Kinder wurde die Klappe zugeschoben. Neben Peo, dem 6-jährigen, lagen verwundete Soldaten mit teils offenen, teils verbundenen Wunden. Zwischen 2 Sitzen stehend eingeklemmt sah er aus nächster Nähe einen, welcher in eine aus Leder gefertigte Schürze laufend Blut erbrach. Die Entstehung von Lichtblitzen in der nebligen Luft erklärte die Mutter den Kindern später als vorbei fliegende Geschosse. Ungetroffen und somit nicht abgeschossen landeten alle mit Zwischenstationen bei einer Tante in Berlin und danach auf dem Bahnhof der Türmestadt.
Die Freude der Großeltern, aus Rastenberg in Ostpreußen stammend, war unübersehbar. Mit der Tram, hier Ziche genannt, dass Gepäck auf dem kleinen Anhänger verstaut, ging es zwei Stationen weiter. Es dauerte nicht lange und die Kinder hatten Spielgefährten zum Drachensteigen, später zum Puppenspiel am Georgenberg, zum Stromern im Seufzer, zum Badengehen in der schwimmenden Kaiserschen Badeanstalt. Sie bestand aus einer Holzkonstruktion, welche auf leeren Fässern im Wasser schaukelte. Waren Jahre später Peos fast gleichaltrigen Kusinen da, dann war der Weg zum Bad ein doppeltes Vergnügen. So mancher ihnen begegnende Klassenkamerad ließ den Gang gestelzter werden, wenn Rufe wie „He du, gib nicht so an“ erschallten. „Is’ was“ genügte dann schon als Reaktion.
Später, als dreizehnjähriger von Onkel und Tante nach Torgau in die Villa am Park eingeladen, erschienen Peo die fast gleichaltrigen Kusinen nicht mehr so anziehend, wenn er beim mittäglichen Wettrechnen den Intelligenzbestien, von der ehrgeizigen Tante getrimmt und alle mit Einser-Abitur bestehend, ausgeliefert war. Doch das gehört zum Leben und Torgau mit seinen Teichen wird nicht vergessen.
Zu der Zeit war auch ein Junge Rainer, der spätere Präsident des Kirchentages im Land Sachsen-Anhalt in den neunziger Jahren, so etwas gab es auf der Gegenseite des Universums auch, welcher dann von Händel hofiert und von Peo ferngehalten wurde, noch ein etwas älteres, aber nettes Kind, noch nicht in München lebend. Er war noch frei von Vorurteilen, wie Kinder eben so sind, machte auch schon einmal mit kleineren beim Spiel auf der Straße vor dem Georgenberg 1 Spaß. Seine Mutter führte zu Weinachten Puppenspiele für die Kinder des Umfeldes auf. Er und sein Bruder mussten leider bald fluchtartig die Heimat verlassen, sie, die Schüler und aktiven Christen, sollten verhaftet werden.
Erst 2001 sah Peo ihn als Gast eines Abi-Balls im Ballsaal des Domgymnasiums sitzen. Haben Vergesslichkeit oder Kalkül oder Einfluss durch Händel dazu geführt, dass der Name seiner nicht zu übersehenden achtzehnjährigen Tochter keinen Bezug zum ehemaligen Mitbewohner ergab? Nun ja, auch praktizierende Christen, also Gotteskinder, werden von Senilität im Alter oder Ergebenheit nicht verschont.