5.2.3. Scheißstaat

5.2.3. Scheißstaat

Den Inhalt der studierten Fächer Mathematik und Physik, welche ihm nicht lagen (die Studienrichtung oblag der Einsicht in die Notwendigkeit), hat er dann mit Fleiß, Witz und gutem Willen 30 Jahre lang an die Schüler gebracht.

Einige kamen davon nicht los und studierten seine Fächer in dem Glauben, Last und Lust mit „Rätsel, Jux und Zauberei“ weiter zu gestalten. Silke hatte mit Pforte Glück, dort kann sie sich, wenn begnadet und hochgebildet, als naturwissenschaftliche Studienrätin ausleben, die Sprachgenies ahnen lassen, das die Naturwissenschaft, hier besonders die Chemie das Maß aller Dinge ist (heute in ein süddeutsches Bundesland verzogen).

Auch Hansi, später in Erfurt als Oberstufenleiter tätig und dort an der pädagogischen Front im April 2002 als einer von siebzehn Menschen mit einer Schusswaffe niedergemetzelt, ließ sich vom als „Rätsel, Jux und Zauberei“ betriebenen Mathematik- und Physikunterricht anstecken (Henschelverlag Berlin 1965). Hansi war ein pfiffiger Experimentator. Während eines regnerischen Wandertages konnte ihm auch einfallen, einen wassernassen Baum zu schütteln, unter welchem die Lehrkraft eine Erläuterung über die Vorzüge regelmäßiger Niederschläge vor maulenden Fünftklässlern von sich gab. Dieser mit dichten Locken bestückte Knabe konnte sich das leisten. Sein Schopf war wasserdicht, während bei Peo die Schülerinnen, hinter ihm in das Klassenbuch schauend, schon mal ganz leise ob der beginnenden Tonsur kicherten.

In jener Zeit lernte Peo viel über das Miteinander von Erwachsenen. Erst jetzt wundert er sich nicht mehr, dass Kollegen keine langen Wartezeiten bei PKW- Bestellungen hatten, aufgedonnert mit Ersatzreifen und viel Pferdestärken durch befreundete Länder reisen durften, die knatternden aber beliebten Stinker hinter sich lassend, Turnmatten aus der Schule heimgehen ließen, die Staatsjuristen nicht fürchten mussten.

Er wundert sich aber immer noch über sein durch die politische Obrigkeit wenig gemaßregeltes Leben ab 1968, dem Beginn seiner Auffälligkeiten. Na schön, er wurde seine Tätigkeit als Schulleiter los, er wurde versetzt, er war nicht mehr der Nachwuchskader. Gekränkt hat ihn, den Idealisten, das nicht, denn es gab für leichtere Schandtaten üblere Sanktionen und er wollte ja auch das System nicht mehr tragen. Er hatte sich aus den Idealen der Macht bewusst herausgedacht und befand sich auch in kleinen Handlungsabläufen nicht mehr auf deren Seite. Der Traum vom Sozialismus mit menschlichen Zügen war ausgeträumt. Die Machthaber hatten ganz gewiss gegenüber solchen Jugendlichen und jüngeren Bürgern schon eine Strategie ersonnen und diese ausprobiert.
„Idealistische Leute sind wegen ihrer Opposition nicht mit Gefängnis zu bestrafen, wohl aber durch Verhöre, Berufsverbote und zerstörte Beziehungen dauerhaft zu schädigen“.

So also sah die Wahrhaftigkeit in der Deutschen Demokratischen Republik aus. Um diese Strategie zu erkennen hätte Peo akademisch vernetzt sein müssen. So aber war er nur hin und wieder verwundert und enttäuscht.

So war er also auch nur enttäuscht vom Vorsitzenden der Gewerkschaft Unterricht und Erziehung, der Peo, dem gewählten Vorsitzenden der Jugendvertretung väterlich riet, seine gewerkschaftlich Funktion abzugeben, um sich mehr der Schule zu widmen. Kaum vollzogen, ist Peo, nun ohne Schutzzone, als der Schulleiter rausgeflogen. Wieder aufgesessen und nicht ahnend, dass damit der Schutzschild Gewerkschaftsvertreter sich auflöst? Nicht gewusst, dass dessen Ehefrau eine hochrangige Mitarbeiterin der Staatssicherheit war? So also sah es hinter den heiteren Bildern der neuen Heimat aus.
War doch aber nicht alles schlecht in der DDR? Es war alles schlecht, was nicht an Glück im engsten Kreis erlebt und gelebt wurde.
Der PKW Trabant wurde geliebt, weil es nichts anderes gab. Die Kriminalität war gering, weil sie verschwiegen wurde. Das Gesundheitswesen im Ganzen taugte nicht, denn nach der Wende 1990 stieg die Lebenserwartung doppelt so schnell, wie im Westen. Wohl ist in der neuen Republik alles moderner, doch unerträglich unsozial für die sozialabgabenpflichtigen Werktätigen der Mittelschicht.
Im menschlich verständlichen Streben, gut zu arbeiten, pünktlich und fleißig zu sein, stärkte jedermann das System im Glauben, es könnte besser werden.

Dazu noch einige Auffälligkeiten!
In den achtziger Jahren fielen in den Schulräumen plattengroße Putzteile von den Decken, auch senkte sich der Straßengiebel dank unterspülter Fundamente, der Mangel ließ eine Reparatur nicht zu. Lediglich angebrachte Gipsmarken zeugten vom Fortschritt des Verfalls. Als dann auch in seinem Raum durch eine defekte Dachkehle Wasser eintrat, lieh ihm ein freundlicher Vater, nachdem seine Hinweise wochenlang nichts bewirkten, einen gelben Arbeitsschutzhelm, welchen er im Unterricht demonstrativ trug. Sofort wurde eine Baufirma tätig. Die Gefahr für Schüler und Lehrkräfte war gemildert. Kaum zu glauben, dass in den erst 2003 an Peo zugestellten Kopien einer Aufarbeitungsbehörde der neuen freiheitlichen Demokratie, der BStU, dieses als Schandtat und Staatsgefährdung registriert war.

Markiert wurde auch in einem durch „Horch und Guck“ geöffneten Brief an seine Schwester vom 06. 04. 1982 der Satz: „Nach einer Operation ist die verödete Ader nun verklebt und hart. Im Juli möchte ich schon etwas ordentlicher aussehen, dann zelte ich mit meiner neunten Klasse am Schweriner See. Drei Jahre habe ich gebraucht, um diese Gruppengenehmigung zu erhalten. Ein Arbeiter- und Bauernstaat, Freund der Jugend, Scheißstaat. Jetzt muss ich mich aber zusammennehmen, denn ich will nur noch das Positive sehen“. Laut Tagebuchnummer 573/82 mit Vermerk weiter an AG A/I dann der Hinweis: „Negative Haltung zur DDR“.

Den vollen Wortlaut des Briefes an Peos Schwester fünfundzwanzig Jahre später lesen zu dürfen, viele Erinnerungen wieder auftauchen zu lassen, rechtfertigt fast die Briefkontrolle dieser Behörde, welche aus Fleisch und Blut gläserne Durchsichtigkeit erzeugen konnte.

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