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9. Abgetaucht

9. Abgetaucht

Händel ging immer treu und wenig redlich zu allen Spektakeln. So erschien er auch an einem Adventssamstag wieder auf dem Markt. Die festlich musizierenden Bläser aus dem Ort mit der Burg, welcher einstmals ein Mittelzentrum hätte werden können, ließen etwas in seinem Ego zerspringen. Hatte vielleicht der öftere Umgang mit einem stadtbekannten Philosophen, dahingerafft am Irrsinn, angesteckt? Er stürmte an einer rot-weißen Baustellenabsperrung unterhalb des Turmbalkons vorbei, nahm die vielen Stufen hinauf ohne sichtliche Anstrengung, stellte sich vor die Bläser und bereitete die Arme aus. Von unten wirkte diese Pose sehr eindrucksvoll und passte zu dem geblasenen Halleluja. Eine plötzliche Böe hob ihn über die Brüstung. Die Fallgesetze lenkten das Menschlein zwischen Schlösschen und Turm.
Da lag er nun im Schnee und durch einen leichten Windhauch angeregt, schmiegte sich ein Teil der farbigen Baustellenabsperrung wie ein Schulterband an ihn, den Orden ohne Band.Und Peo? Der genoss hin und wieder im Urlaub ein kaltes Bad in der Ostsee.
Seine Gattin rätselte oder nadelte, in einem bequemen Strandkorb oder im Sessel sitzend, an Strickstrümpfen für die Kleinen.
Sie war sich sicher, dass es sich auch der Kater Hugo in Urlaubslaune zu Hause dank seiner nachsichtigen Pflegetante Gisela Schmalz und ohne den anwesenden Hausherrn gemütlich gemacht hatte.Der Sohn, nun auch schon im Ruhestand, betrachtete amüsiert das bildlich festgehaltene Geschehen, an die vielen schon entstandenen und immer dankbar entgegen genommenen Socken denkend. Er und seine ihn immer noch liebende Petra wollten dann, nachdem sie die Eltern besucht hatten, zurück in das Zentrum ihrer Stadt, das nicht mehr in Jena mit all dem Trubel auf der Johannesstraße lag, in der Stadt von Carl Zeiß und Schott und Genossen, sondern nun in der kleinen ruhigen attraktiven Domstadt Naumburg gelegen. Dort warteten in einem umfangreichen Anwesen Sohn Theodor Maximilian Peter Paul auf die zu Besuch weilenden Eltern aus Hoyerswerda mit ihrem großen Korb voller duftender Kräuter aus eigenem Anbau, ein neuer Audi 8, Baujahr 2036 (diesmal nicht in Silber sondern in Rot und Wasserstoff getrieben), der erweiterte eigene Familienclan und eine neue Folge der „Lindenstraße“.

Die Schwester mit ihrem geliebten Sohn Johannis wiederum sah vor ihren Augen Bilder, welche an die eigene Familiengründung erinnerten.
Kinderkleidung der nun schon Erwachsenen kamen damals wieder zum Vorschein und damit viele Erinnerungen als Vorboten der am 28. Dezember 2008 zu erwartenden Niederkunft. Ein weiterer Erdenbürger hatte sich dann auch pünktlich eingestellt. Auch Menschen, Einrichtungen und deren Bedeutung, welche schon stark verblasst waren, wurden wieder wichtig. Die unfertige Entbindungsstation der Domstadt ließ den neuen Erdenbürger einen Weißenfelser werden. Ein guter Ruf aus dem Kreis der jungen Mütter führte zur Beratung in die Christliche Sozialstation, in der Naumburger Salzstraße residierend. Die standesamtlichen Sachverhalte brachte am freundlichsten die dortige Chefin an Frau und Mann.

Alle war geregelt, alle waren mit ihren Aufgaben als Lernende, als Lehrende, als Erwerbende eingebunden. Die Enkel waren nun schon groß und Peo altersmüde.

Peo also, das Haus hütend, stellte eines Tages im Heizungskeller, Nasenrezeptoren und Strahl waren noch wie immer, einen dumpfen schwefligen Geruch fest. Sich an einen Hinweis der Technischen Werke erinnernd, verglich er eine vom Gasproduzenten mitgelieferte Probe, welche ihm bestätigte, dass etwas an der Anlage technisch faul war.
An diesem letzten Tag rief die schon seit Jahren im Haus Pflegedienst der Pflegestufe II leistende Schwester Karola vom Flemminger Weg „Tschüß für Heute“ und entkam so dem Desaster.
Er, der fast Hundertjährige, rief also gegen sieben Uhr am Morgen seine Lieblingsfirma „Gas-Wasser-Sanitär“ vom Marienring an, diese hatte die Tiefen in den Läufen der Zeit gut überstanden, und bat um Prüfung des Problems.
Wir kommen gleich so gegen zehn Uhr, war die erfreuliche Botschaft der mit dem ersten Schnee des Jahres konfrontierten und wie immer überlasteten Handwerker.
Am vorderen Grundstück die Klingel benutzend konnten die geschulten jungen Männer in ihren orangen Overalls staunend beobachten, wie der ihnen schon seit Jahren bekannte fast hundertjährige Kunde, sich hoffnungsvoll und endlich erlöst fühlend, nochmals freundlich winkend, dank einer milden Verpuffung aus den bebenden Wänden des 1969 erbauten Einfamilienhauses gen Himmel fuhr, nun aber wieder mit der ärgerlichen Gewissheit, die Feuer-, Hausrat-, Elementarschaden-, Katastrophen- und Rechtsschutzversicherung umsonst regelmäßig gezahlt zu haben. Denn wie in einem russischen Märchenfilm bogen sich die Kaminwände nur leicht nach außen, um Peo den Weg freizumachen, und schlossen sich dann wieder.

Er hatte sich zwar nicht an öffentlichen Glaubensbekenntnissen und atonalem Singsang in fröstelnden Gemäuern beteiligt, aber so ein ganz klein wenig dank vieler Literatur die Hoffnung in sich genährt, dass am Ende doch nicht alles vorbei sei, dass ,,Geboren sein und aus dem Leben gehen“ lediglich eine Veränderung bedeuten.

Alles war geregelt und das Schicksal hatte es so gewollt.Unterwegs auf dem Weg in die Unendlichkeit zogen an ihm die kalten Augen der Superintendentin vorüber, welche ihm vom ersten Tag der Begegnung an nicht wohl gesonnen war. Diese wollte vor fast fünfzig Jahren nicht begreifen, dass kurz nach der Wende Religion angeboten werden durfte (Peo und sein Spannemann hatten zeitiger als in allen anderen Landesteilen in ihrem Wirkungsbereich die Möglichkeiten eingerichtet), das Land aber den Bedarf an Fachkräften nicht decken konnte, die Kirchenverwaltung personell nicht handlungsfähig wurde und sie so eine bequeme Schuldverschiebung suchte. Oder nahm sie Peo übel, dass er kein Mitglied ihres Glaubenskreises war, dass er als Heide, die Glaubenskrieger hatten ihn nicht bezwungen und bekennender Atheist wollte er nicht sein, friedlicher war als sie selbst? Sie hatte wohl im täglichen Geschäft einer Verwaltung verlernt, „liebevoll Kirche zu leben und Brücken zu bauen“.
Auf weitere Begegnungen legte er keinen Wert, denn weitaus jüngere Würdenträger der Christenheit brachten es schon auf Erden nicht fertig, den Älteren zu grüßen, sei es auf dem Weg ins Ordinariat, in Kleines Poststelle, auf den Wegen im Städtchen. Händelvasallen!
So fand er sich bei Petrus ein, sich schon zu Lebzeiten auf die vielen lieblichen Engel freuend, welche die großen Künstler des Barock mit feinem Pinselstrich aus dem gemalten Himmel schauen ließen, sich auf einer Wolke sitzend, hin und wieder wie eine sichtbare Ausstrahlung, wie eine Aura, am Zeitvertreib seiner Nachfahren zu erbauen. Hätte er der richtigen Glaubensgemeinschaft angehört, wäre aus ihm vielleicht ein Ahlbecker Schwan geworden, wandelnd zwischen den unterschiedlich ausgeschilderten Strandzonen.

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